Der Vorlesetag aus der Sicht einer Vorlesepatin
Niederbachem, 05.05.2017. Es ist Freitag und ich muss heute früh aufstehen, früher als sonst, was wie so oft dazu führt, dass ich noch früher als früh aufwache und nicht mehr einschlafen kann. Ich bin Vorlesepatin und habe einen Termin. Die Grundschule in Niederbachem sollte leicht zu finden sein, dennoch fahre ich früher los, als ich muss, so bin ich eben, lieber ein Zeitpuffer, lieber zu früh als zu spät. Das Navi führt mich einen seltsamen Weg durch Ließem und plötzlich stehe ich an einer Straßenkreuzung und vor einem Schild >Durchfahrt verboten<, klein darunter: `frei bis zum Bolzplatz´. Geradeaus sagt mein Navi, das darfst Du nicht, sagt mein Gewissen. Ein ängstlicher Blick auf die Uhr. Wo der Bolzplatz ist, ist bestimmt auch die Schule, denke ich und gebe wieder etwas Gas. Unwirsch zieht der Spaziergänger seinen Hund zur Seite. Ich fahre bis zum Bolzplatz. Keine Schule zu sehen, dafür aber jede Menge Verbotsschilder. Ich schlucke. Nein, zurückfahren kann ich nicht mehr, dann komme ich zu spät. Langsam fahre ich weiter, die nächsten Hundespaziergänger frage ich freundlich - während ich zugleich versuche, zerknirscht zu wirken -, ob das der Weg zur Schule sei. Alles klar, das gelbe Gebäude dahinten und schon bin ich wieder auf erlaubten Straßen und suche einen Parkplatz in der Nähe der Grundschule. Ich bin nur fünf Minuten zu früh und dennoch die Erste.
Vorlesen macht mir richtig viel Spaß, aber das wissen Sie ja. 28 Zweitklässler mit Kuscheldecken und Kissen auf Matten zu meinen Füßen. Wir beginnen wie beim Literaturcamp, erkläre ich ihnen, jeder steht auf und sagt seinen Namen und – etwas, was er oder sie mag. Einige Namen habe ich noch nie gehört und sie mögen Fußball, Haustiere und Tennis, reiten, Rad fahren und Mathe. Ich heiße Beate Fuhrmann und mag Erdbeeren. Alle lachen. Und dann spreche ich kurz über Astrid Lindgren und ihre Bücher und dann lese ich los, >Ferien auf Saltkrokan< habe ich ausgewählt, und während Melcher und seine vier Kinder sich auf den Weg zur Insel Saltkrokan machen, um den Sommer im Schreinerhaus zu verbringen, tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf, von der kleinen Stina und von Tjorven mit ihrem Bernhardiner Bootsmann und es ist wieder Sonntags mittags und wir dürfen fernsehen, Klaus, Monika und ich.
Ich lese das zweite Kapitel nicht mehr zu Ende, die Zeit ist um. Und dann gibt es noch Kaffee und Kekseund Gespräch im Lehrerzimmer. Die anderen kennen sich zum Teil, ich höre zu. Die Lehrerinnen sind alle nett, ach ja, die Schokolade habe ich vergessen, es gibt zum Abschied Applaus von der Klasse und >Merci< von der Klassenlehrerin. Ich mag Schokolade sehr. Aber Vorlesen mag ich sogar noch lieber. Ehrlich.
(Beate Fuhrmann, 05.05.2017)